Einsamkeit
©Siegfried Zademack


 Eine junge Frau, die Männer bei sich empfing und so  ihren Lebensunterhalt verdiente, beobachtete einmal  zwei Trauerzüge, die an ihrem Fenster vorüberzogen. Sie  sagte zu ihrem Liebhaber:
 "Ich bin sicher, daß die Seele des ersten Toten im  Himmel ist und die Seele des zweiten in der Hölle  schmort."
"Woher willst denn ausgerechnet du etwas von solchen Dingen verstehen, die allenfalls ein Heiliger verstehen kann. Und heilig bist du ja nun wirklich nicht", fügte ihr Liebhaber ironisch hinzu.
"Was ich behaupte, ist doch so offensichtlich, daß sogar ein so schlechter Kerl wie du es erkennen kannst", parierte sie seine Stichelei. " Wenn du aufmerksam hinschaust, wirst du bemerken, daß alle Leute, die dem ersten Sarg folgen, traurig den Kopf gesenkt und Tränen in den Augen haben. Diejenigen, die dem anderen Sarg folgen, gehen erhobenen Hauptes, weinen nicht, reden sogar miteinander, als hätten sie den Ernst der Stunde glatt vergessen.
   Daraus folgt, daß der erste Tote ein liebenswürdiger Mensch war, dem viele in Zuneigung und in Freundschaft zugetan waren, und darum ist er sicher in den Himmel gekommen.
   Den anderen hat wohl niemand geliebt, und vermutlich auch keinen Anlaß dazu gehabt, denn niemand ist traurig über seinen Tod."


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